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Die neue Einstimmigkeit

Dieser Artikel ist aus der wienerzeitung.at . Bei Fragen oder anderen Anliegen wenden Sie sich bitte an den unten angegeben Autor.

Die neue Einstimmigkeit – wienerzeitung.at

Die Welt wird immer komplexer, dreht sich immer schneller, wird immer lauter. Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit und das Bedürfnis nach Vereinfachung steigen parallel dazu – in vielen Lebensbereichen. Im dröhnenden Kanon der verwirrend vielen Stimmen sucht der moderne Mensch heute eher den Gleichklang und das Unisono, begibt sich in geschützte Meinungsblasen, zimmert sich eine Echokammer fürs Wohlbefinden.

Die den Horizont erweiternde, die eigene Stimme kontrastierende Vielstimmigkeit oder gar die mit Spannung aufgeladene Dissonanz scheinen da zunehmend unattraktiv. Andere Stimmen dienen maximal dazu, die eigene Position abzugrenzen, die eigene Meinung daran wie mit einem komplementären Kontrastmittel zu schärfen. Zuhören, andere Stimmen gleichwertig neben der eigenen erklingen zu lassen, sind keine zentralen Anliegen. An kaum einer Kulturtechnik lässt sich der Trend hin zu dieser neuen Einstimmigkeit besser illustrieren als am gemeinsamen Singen, am vielstimmigen Chorgesang. Und an kaum einer in Vergessenheit geratenden Praxis lässt sich anschaulicher zeigen, auf was wir damit verzichten.

Der erste Ort, an dem Kinder bewusst auf andere Stimmen und damit andere Blickwinkel auf die Welt treffen, also erstmals die Dynamiken der Gruppe bewusst erleben, ist die Volksschule. Sie ist auch der Ort, an dem gemeinsames und vor allem mehrstimmiges Singen (in Bezug auf die Entwicklung der Kinder) erstmals funktionieren kann. Die Betonung liegt auf dem „kann“, wie ein Blick in die schulische Praxis zeigt. „Es gibt immer weniger Lehrerinnen und Lehrer, die sich sicher genug fühlen, um sich vor eine Klasse zu stellen und mit den Kindern zu
singen“, weiß Pädagogin Barbara Ferlesch aus ihrer Arbeit in einer Volksschule im 15. Wiener Gemeindebezirk. Wenn Lehrerinnen und Lehrer mit den Kindern singen, dann meist mithilfe von Play-back-CDs: „Ein reales Instrument sehen nur wenige Kinder in diesen vier Jahren Volksschule.“

Die Wiener Sängerknaben

Musikpädagogin Beate Koch teilt diese Beobachtungen: „Diese CDs tauchen bereits im Kindergarten auf. Bei dieser Form des Singens müssen Kinder nicht mehr eigenständig singen können, sie singen einfach mit dem vorgegebenen Playback mit.“ Koch, die erst dieses Jahr einen Kinderchor in Wien Neubau gegründet hat, sieht darin eine Verarmung der musikalischen Schulung. Mit einem aktiven schöpferischem Prozess hat diese Form des Musizierens kaum noch etwas zu tun: „Das Werk ist immer schon fertig, die Kinder klinken sich nur ein.“

Mit Mehrstimmigkeit hat diese schulische Praxis nichts mehr zu tun. Das hat für Koch gravierende Folgen: „Wenn Kinder immer nur die erste Stimme singen, lernen sie, dass es darum geht, immer an dieser einzigen und ersten Stelle zu stehen. Zweite und dritte Stimmen oder gar die Lust an der Vielfalt kommen nicht vor.“ Das hat gravierende gesellschaftliche Konsequenzen. Oder es ist zumindest – umgekehrt gedacht – ein ziemlich präzises Abbild kollektiver Entwicklungen. Und das nicht nur in Fragen der Kindererziehung. Die Entwicklung von der aktiven Lust an der Mehrstimmigkeit hin zum Sich-passiv-Einklinken in einen vorgefertigten, einstimmigen Fluss – das lässt sich als Schablone für viele Lebensbereiche lesen.

Was Kindern mit dem gemeinsamen Singen abhandenkommt, ist wesentlich mehr als nur eine klassische analoge Kulturtechnik: „Kinder verlernen, aufeinander zu hören. Die eigene Stimme zu halten und dabei die anderen wahrzunehmen, ist ein komplexes Ereignis“, analysiert Chorleiterin Koch. Dabei entsteht mehr als nur ein hübsches Lied. Etwa die Fähigkeit, andere Stimmen wahrzunehmen, sie neben der eigenen zuzulassen, als gleichwertig gelten und für sich stehen zu lassen, ohne sie zu verurteilen und zu beantworten und dabei dennoch bei der eigenen Stimme zu bleiben – das klingt nicht nur nach einer Anleitung für erfolgreichen Chorgesang, sondern lässt sich auch als Leitfaden für den Umgang auf Sozialen Medien oder so manche aus dem bröckelnden Rahmen der Höflichkeit laufende (politischen) Diskussion lesen. Vom viel bemühten Bild des polarisierenden Lagerdenkens ganz zu schweigen.

„Was Kinder beim gemeinsamen Singen lernen können, ist immens“, ist Koch sicher, „was diese Fertigkeiten ihnen später bringen, ebenso.“ Es ist eine Lektion, die sich aktuell durchaus als zentral in Sachen digitale Medienkompetenz argumentieren und nutzen ließe.

Die Wiener Sängerknaben

Auf der Suche nach den Ursachen für diese Verarmung sieht der Musikerzieher und langjährige Musikschuldirektor Ernst Smole einen „großen Gap zwischen dem, was in den Lehrplänen steht – und dem, was umgesetzt wird“. Für ihn gibt es darüber hinaus eine ganze Reihe an „Misslingensbedingungen“ für schulisches Singen: „In der NS-Zeit wurde der Ruf des gemeinsamen Singens nachhaltig geschädigt.“ Doch nicht nur die Nationalsozialisten instrumentalisierten Gesang für ihre Propaganda und ideologisierende Zwecke, überhaupt gelte: „Die bösesten Menschen des 20. Jahrhunderts haben am meisten gesungen.“

Abgesehen von diesem angekratzten Image erleben wir aktuell, so Ernst Smole, „die Kehrseite der Komplexität, eine Hinkehr zur gesellschaftlichen Einstimmigkeit“. Was den Kindern damit verloren geht? „Die Mehrstimmigkeit ist die Erschließung des Raumes – nicht umsonst entwickelte sich mehrstimmiges Singen parallel zur Perspektive in der Malerei.“

Für Volksschullehrerin Barbara Ferlesch steckt im schulischen Singen jedoch mehr als das Wahrnehmen anderer Stimmen: „Die Schulung der Fehlerkultur und die körperliche Wahrnehmung von Nähe sind elementare Erfahrungen, die Kinder hier machen können.“ Mehr noch: „Es gelingt im Singen, die Selbstwahrnehmung, die Aufmerksamkeit und auch die Achtsamkeit zu fördern.“ Ein Feld, in dem Singen jedoch gerade in den vergangenen Jahren massiv Konkurrenz bekommen hat – von der Arbeit mit Klangschalen über Meditieren bis zu Kinderyoga: „Musik ist hier zu einem Angebot unter vielen geworden.“

Dass Kolleginnen und Kollegen sich hier zunehmend gegen das Singen als Methode entscheiden, dafür macht Ferlesch auch das mangelnde Selbstvertrauen der Pädagogen in ihr Singen verantwortlich. „Viele von ihnen lernen erst im Erwachsenenalter im Rahmen der Ausbildung ein Instrument. Das verfestigt sich ganz anders als in der Jugend.“ Klanglich perfekt gemachte CDs als bequeme und leicht verfügbare Unterrichtsmaterialien unterstützen dieses Unbehagen der Lehrer noch. Sie setzen auf die vermeintlich sichere Karte.

Ferlesch setzt an ihrer Schule in Rudolfsheim-Fünfhaus auf die Partnerschaft mit Superar. Der Verein hat das Ziel, Kindern „kostenfreien Zugang zu hochwertiger musikalischer Förderung“ zu ermöglichen. Vier Stunden Chorgesang hat die Klasse von Barbara Ferlesch in dieser Kooperation pro Woche. „Das Singen erweist sich gerade in einer Schule, in der der Anteil der Kinder mit nicht deutscher Umgangssprache sehr hoch ist, als wunderbares Integrationstool. Sprache lernt sich in Kombination mit Musik wesentlich leichter. Es fördert zudem das Gemeinschaftsgefühl, schweißt eine Klassengemeinschaft zusammen.“

Blickt man über das System Schule hinaus, lässt sich beobachten, dass parallel mit dem Verlust der musikalischen Fertigkeiten, auch die Sehnsucht danach steigt, sie (wieder) zu beherrschen. Das zeigt sich nicht nur in einer aktiven Szene an Laienchören. Auch im Konzertleben gibt es Angebote, die eigene Stimme zu erheben, in den vielstimmigen Klang einzustimmen. Das Wiener Konzerthaus veranstaltet dieses Wochenende wieder ein „Sing Along“ zum Thema Weihnachten – dabei wird unter professioneller Anleitung mehrstimmig gesungen. Für Konzerthauschef Matthias Naske ist Polyphonie ein philosophisches Thema: „Die eigene Stimme unabhängig von anderen zu gestalten, das ist ein emanzipatorischer Akt anderen Gegenüber. Das Erlebnis der Vielstimmigkeit geht weit über das unmittelbare künstlerische Leben hinaus. Es ist die Möglichkeit, gemeinschaftlich den bereichernden Wert von Andersartigkeit zu erleben.“ Eine Lektion, deren bereichernde Kraft nicht zu unterschätzen ist. Und eine Erfahrung, die so manchen verengten Horizont erweitern könnte.

AUTOR Judith Belfkih  Stv. Chefredakteurin